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Geschlecht Selbst Bestimmt: Die Stuttgarter Erklärung

Wenn Menschen, die von geschlechtlichen Normen abweichen, medizinisch behandelt werden wollen, ist es um so wichtiger, das Wissen anzuerkennen, das diese Menschen über ihr eigenes Geschlecht besitzen. Dieses Wissen soll nicht länger Gegenstand einer medizinischen Behandlung sein. Dies ist die zentrale Botschaft der "Stuttgarter Erklärung", die Menschenrechtsaktive, Betroffene, sowie Psychotherapeuten und Mediziner gemeinsam im Januar 2015 in Stuttgart erarbeitet haben und jetzt zur Mitzeichnung offen ist. Die Erklärung wurde u.a. von der Eberhard-Schultz-Stiftung und dem Land Baden-Württemberg unterstützt.

In Vergangenheit waren transsexuelle und intersexuelle Menschen damit konfrontiert, dass medizinische und psychotherapeutische Massnahmen meist nicht den Sinn hatten, individuelles Leid zu lindern, sondern Diagnosestellungen und darauf basierende Behandlungen im Sinne geschlechtlicher Normierung verstanden wurden. Bisher gingen Mediziner von der Idee aus, dass Geschlecht immer nur am Körper abzulesen sei, und betrachteten Abweichungen zu dieser von ihnen selbst reproduzierten Norm, die sie selbst als "biologische" Tatsachen misinterpretierten, als körperlich oder psychisch krank. Geschlecht wurde zum Behandlungsgegenstand.

Betroffene wiesen in den letzten Jahren häufig darauf hin, dass der Denkfehler, der zu massiven Menschenrechtsverletzungen geführt hat, die geschlechtliche Deutug gewesen ist. Anstatt die geschlechtliche Selbstaussage eines Menschen als Basis für die medizinische oder psychotherapeutische Behandlung zu erachten, wurden solche Aussagen per Diagnosestellung selbst zum Behandlungsgegenstand. Eine so genannte "Gender Identity Disorder" oder "Gender Dysphorie" benannte dabei immer genau um was es bisher ging: Um geschlechtliche Normierung. Da "Gender" das soziale Geschlecht bedeutet, ist die Idee einer Gender-Störung oder Gender-Missempfindung immer im Vergleich zu geschlechtlichen Normen gedacht gewesen. Medizin und Psychotherapie wurde die Aufgabe zugetragen, Geschlecht im Sinne einer gesellschaftlich gewollten Norm zu kontrollieren und gegebenenfalls medizinische Schritte einzuleiten, diese Normen weiter aufrecht zu erhalten.

Die "Stuttgarter Erklärung" formuliert eine Abkehr von dieser geschlechtlichen Normierungsaufgabe, die der Medizin und Psychotherapie in Vergangenheit übertragen wurde. Betroffene, Menschenrechtsaktive und Behandler haben einen Text formuliert, der eine Alternative zu der bisherigen fremdzuweisenden medizinischen und therapeutischen Praxis aufzeigt. Kern der Erklärung ist, das geschlechtliche Selbstwissen eines Menschen anzuerkennen, dies die Grundlage aller weiterer medizinischer und therapeutischer Behandlung darstellt und nicht den eigentlichen Behandlungsgegenstand bedeutet. Dies stellt eine Zäsur zum bisherigen Umgang mit Menschen dar, die von geschlechtlichen Normen abweichen, wie beispielsweise die Menschen, die in unserer Gesellschaft als trans- oder intersexuell erachtet werden. Von besonderer Wichtigkeit bei der Erarbeitung der Erklärung war, sich die Frage zu stellen, was bereits heute möglich ist, ausgehend der bestehenden Situation in Deutschland.

Die "Stuttgarter Erklärung" ist sowohl Selbstverpflichtung aber auch Bekenntnis zu den Menschenrechten und den Grundsätzen ethischen Handelns in Medizin und Psychotherapie. Der Hinweis auf die Erklärung bedeutet für diejenigen, die bereits in den letzten Jahren eine Abkehr von geschlechtlicher Fremdbestimmung gezogen haben, oder bereits immer schon das Wohl des Patienten oder Klienten als wichtiger erachtet haben, als geschlechtliche Kontrolle, eine gute Möglichkeit, auch auf dieses Selbstverständnis offen hinzuweisen. Betroffene können die Erklärung nutzen, um ihrem Behandler, sei es ein Arzt oder Therapeut, Mut zu machen und darauf hinzuweisen, dass das geschlechtliche Selbstwissen anzuerkennen wichtig für alles weitere ist.

Ab sofort kann die "Stuttgarter Erklärung" mitgezeichnet werden.

Der Link findet sich hier: http://die-erklärung.de/
Download der Erklärung: Die Stuttgarter Erklärung