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Ein "Trans*hype" oder eher ein Sexologenhype?

In letzter Zeit melden sich Einige zu Wort, die der Ansicht sind, dass es so etwas wie einen Transgender/Trans*-Hype gäbe und sich kritisch zu Transsexualität äussern. Die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer widmet dem Thema viel Platz in ihrer Zeitschrift, der Psychosexologe Alexander Korte tourt durch Deutschland und bekommt dafür Raum in den Medien, etc. Dabei ist die Diskussion falsch. Es gibt keine Zunahme an Transsexualität. Denn "Trans*" und Transsexualität sind nicht dasselbe.

"Trans*" ist die szenekompatible Übersetzung der psychiatrischen Diagnose des DSM V (dem Statistischen Manual der psychischen Störungen der Amerikanischen Psychiatervereinigung APA), die sich "Gender Dysphorie" nennt und 2013 verabschiedet worden ist. Es waren Psychosexologen, die lange darauf hingearbeitet hatten, die Diagnose auf Menschen zu erweitern, die bisher noch gar nicht als "gender dysphorisch" oder "gender variant" erfasst worden sind.

Interessanterweise hatte sich der Kern der Logik, die auch schon im DSM IV steckte, nicht verändert: Diagnostiziert wird, wer sich "gender-atypisch" verhält. Damit ist dann gemeint, dass sich beispielsweise Kinder, die sich nicht ihrem "biologischen Geschlecht" (in Anführungszeichen, da die Psychosexologie damit ihre eigene Deutung des biologischen Geschlechts meint, was mit Biologie wenig zu tun han) verhalten, als gender-variant bzw. "gender dysphorisch" klassifiziert und diagnostiziert werden. Wir hatten damals darauf hingewiesen, dass es sich um eine psychiatrische Weltsicht handelt, die sich bis heute nicht geändert hat.

Was sich geändert hat ist, dass die Diagnose breiter aufgestellt worden ist: Als gender-dysphorisch gilt seitdem auch das, was früher Transvestitismus genannt worden ist und bezieht sich auch auf gender-untypisches Verhalten von femininen Schwulen oder maskulinen Lesben, sowie intersexuellen Menschen. Wenn jemand eine psychiatrische Diagnose erweitert auf alles mögliche, was mit Gender Identity zu tun hat - und das ist mit dem DSM V geschehen - dann wird hinterher auch das, was als "transgender" diagnostiziert wird, zunehmen. So weit, so schlecht.

Dass es Menschen gibt, deren Körper vom Geschlecht abweicht, wurde weiterhin von der Psychosexologie abgestritten und Menschen, die darauf hingewiesen haben, dass Transsexualität existiert, auf vielfältige Weise aus dem Diskurs ausgeklammert. Zu Gesprächen, wie denn nun die DSM-Diagnose auch in den ICD, der Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, aufgenommen werden könne, wurden Menschen, denen es "nur" um Transsexualität ging, erst gar nicht eingeladen. Wer eingeladen wurde, waren Personen und Vereine, welche die Erweiterung der Psychodiagnostik mittragen wollten.

Nun haben wir 2020 und müssen feststellen, dass Psychosexologen wie Alexander Korte sich über ihre eigene Weltsicht wundern und vor einem "Trans*-Hype" warnen. Das ist absurd.

Es haben sexistische und genital-basierte Definitionen von Geschlecht und damit - zugleich - auch die Klassifikation von Aussagen von Menschen als Varianten der Geschlechtsidentität zugenommen. Und das basiert auf der Weltsicht von Psychosexologen, die in Büchern von atypischen Geschlechtsidentitäten schreiben. Es gibt keine Zunahme an Transsexualität. Was es aber gibt: eine Zunahme von trans*-Diagnosen, da die Gruppe, die mit dieser Diagnose erfasst wird, erweitert worden ist.

So gesehen müsste man eher sagen, dass es einen Psychosexologen-Hype gibt, die mit dem DSM V neue Zielgruppen erfasst haben und zusätzlich die Menschen als "trans*" diagnostizieren, die gar nicht transsexuell sind und beispielsweise auch gar kein Körperthema haben. Das wird in den Texten der Psychosexologie ja ganz offen gesagt und ist auch Teil der Diagnose "Gender Dysphorie" und "Gender Inkongruenz", bei denen körperliche Massnahmen ja noch nicht einmal mehr dazugehören müssen.

Vielleicht noch einmal zur Erinnerung, was wir schon lange sagen: Die Behandlung von Transsexualität muss frei sein von Gender-Identitäten. Sie muss darauf basieren, dass Menschen einen Wissen über ihren Körper haben (und damit auch ein Wissen über das Leiden, dass ein Körper, der nicht dem eigenen Geschlecht entspricht, hervorruft). Voraussetzung dafür wäre aber, Transsexualität überhaupt erst einmal als existent anzuerkennen. Das geht aber nur, wenn die Gleichsetzung von Körper und Geschlecht, was von Psychosexologen gerne als "biologisches Geschlecht" bezeichnet wird (ein Biologismus, der bei nährerer Betrachtung auf einer Deutung von Körperzuständen basiert), beendet wird und anerkannt wird, dass Körper nicht immer dem Geschlecht entsprechen müssen - also auch Menschen geboren werden können, deren Körpermerkmale transsexuell sind. Transsexualität zu einer Frage einer Gender-Identiät zu machen, ist genau das Gegenteil davon.

Ein Artikel von 2010 (Hinweis: Beier ist ein Kumpel von Korte):
Ausweitung der Pathologisierung verhindern

Ein interessanter Text über Essentialismus und Gegen-Identitäten

Wir möchten einen Text hier hinkopieren. Als Grosszitat, weil er ein interessanter Text ist. Er erklärt auch, warum identitäre Essentialisten Transsexualität unsichtbar machen (müssen). Wir haben manche Abschnitte hervorgehoben, die im Zusammenhang mit Transsexualität interessant sind.

Der Text:
(Quelle: https://anarchistischebibliothek.org/library/lawrence-jarach-der-essentialismus-und-das-problem-der-identitatspolitik)
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Lawrence Jarach

Der Essentialismus und das Problem der Identitätspolitik

Vorläufige Thesen für eine längere Diskussion über den Essentialismus und das Problem der Identität

  1. Der Essentialismus ist die Idee, dass einige nachweisbare und objektive Kerneigenschaften von einzelnen Menschengruppen existieren, die inhärent, ewig und unveränderlich sind; Gruppierungen können nach diesen Eigenschaften der Essenz kategorisiert werden, die auf solch problematischen Kriterien wie Geschlecht, Rasse, Ethnizität, nationale Herkunft, sexuelle Orientierung und Klasse basieren. Diese äußerlichen Eigenschaften sind fast immer durch sichtbare Merkmale bestimmt, was die Kategorien immer offensichtlicher und/oder leichter erkennbar macht. Diese Eigenschaften enthalten einen sozialen und – was aus einer anti-autoritären Perspektive noch wichtiger ist – einen hierarchischen Stellenwert für diejenigen, die die Merkmale bestimmen und für diejenigen, die durch sie bestimmt werden: Sexismus, im Falle von Gender/Geschlecht, Rassismus im Fall von Hautfarbe, die unerwünschte Aufmerksamkeit der Autoritäten im Falle von sämtlichen anders aussehenden/handelnden Menschen. Rassismus, Sexismus, Klassismus sowie die meisten anderen Formen historischer Unterdrückung sind Ideologien und Politiken, die durch den Essentialismus gepflegt und gerechtfertigt werden.

  2. Für einen Menschen oder eine Menschengruppe am Empfängerende von Rassismus, Sexismus, etc. kann der Essentialismus als eine kraftvolle defensive Perspektive und ein Gegen-Narrativ erscheinen. Anstatt für Kategorien der Abwertung und Unterordnung zu werben, versucht der gegen-essentialisitsche Diskurs der Identitätspolitik die historischen Kategorien der Unterdrückung in Kategorien der Zelebration umzuwandeln. Dies beginnt häufig durch die Aneignung von Beleidigungen und die Umwandlung in akzeptable, sogar ehrenhafte Etiketten. Was einmal beabsichtigte, Andere zu verletzen, wird somit eine Art, den Stolz auf das Gruppen-Selbst auszudrücken. Im Einklang mit diesem Umkehrprozess stellt die Gegen-Essentialistin die Kategorien der Andersheit oft nur auf den Kopf, so dass aus sichtbar identifizierbaren Mitgliedern der Unterdrückergruppe Feinde werden. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl; entweder mit der Gruppe, die unterdrückt oder unterdrückt wird, das ist unerheblich. Der Essentialismus ist nicht die exklusive Domäne der Unterdrücker.

  3. Der Diskurs des Gegen-Essentialismus schließt die Ideologien der Unschuld und der Viktimisierung ein, was eine Identität, die auf der Geschichte einer geteilten Unterdrückung basiert, schnell in eine Pose der Überlegenheit verwandeln kann. Der Gegen-Essentialismus besagt, dass das Opfer angeblich immer unschuldig ist, daher sind die Aktionen und Reaktionen der Opfer für immer über jede Kritik erhaben; alle guten Christen wissen, dass Leiden adelt. Unterdrückung ist niemals das Ergebnis von etwas, das das Opfer tatsächlich dem Unterdrücker angetan hat, was auch immer das Opfer für Strategien zum Widerstand wählt, sie sind legitim. Selbstverteidigung ist seine Rechtfertigung.

  4. Die Anhänger der Identitätspolitik stellen die Kriterien, die zur Viktimisierung verleiten, nur selten – wenn überhaupt – in Frage. Sie können sich die Möglichkeit nicht vorstellen, dass die Erhöhung von irgendeinem kulturell konstruierten Merkmal zu einer wichtigen, wertbeladenen Kategorie, zu Unterdrückung führen könnte. Im Gegensatz zu Unterdrücker-Essentialisten, ignorieren die Gegen-Essentialisten die Komplexität der Machtbeziehungen (welche bedingungs- und situationsabhängig sind); aber wie Unterdrücker-Essentialisten schwelgen sie in der selbstgefälligen Selbstsicherheit, dass ihre Identität statisch, unabhängig und ewig ist. Essentialisten schaffen und pflegen ihre eigenen Privilegien durch die Institutionalisierung von Macht, Gegen-Essentialisten durch die Institutionalisierung der Unschuld.

  5. Franz Fanon, Ernesto „Che“ Guevara, Patrice Lumumba und viele weitere Anhänger der nationalen Befreiung aus der Dritten Welt, selbst solche die bei Anarchisten in noch schlechterem Ruf stehen (wie Castro, Tito und Mao), inspirierten Generationen von selbsternannten Revolutionären in der imperialen Metropole, um gegen Diskriminierung, Rassismus, Kolonialismus und Unterdrückung zu kämpfen. Dass all diese Nationalisten in staatlichen[1] – für gewöhnlich marxistischleninistischen, d.h. stalinistischen – Rahmen dachten, schrieben und handelten ist auch klar. Trotzdem behalten sie, als erfolgreiche Anti-Imperialisten, einen gewissen Reiz und eine gewisse Glaubwürdigkeit unter Anarchisten. Denn: welcher Anarchist würde für den Imperialismus sein?

  6. Die Philosophie und die Vision der Selbstbestimmung benötigt einen Apell an die weltpolitische Meinung; es ist so, als würden sogenannte revolutionäre Nationalisten sagen wollen: „Wir sind reif genug, um unsere eigene Regierung zu leiten, Verträge zu machen, Handel mit den etablierten Staaten der Welt zu treiben, und lästige Dissidenten zu kontrollieren.“ Auf einer bestimmten Ebene akzeptierten und förderten diese angehenden nationalen Führer die Rechtfertigung des Kolonialismus – nämlich: dass die Eingeborenen zu unentwickelt oder ungebildet waren, um die angemessene Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ihres Landes zu bestimmen. Sie wollten zeigen – entweder durch die Macht der Moral (wie im völlig mythologisierten Fall von Gandhi) oder die Macht der Waffen (wie im völlig romantisierten Fall von Che u.a.) –, dass sie es wert waren, dass mit ihnen verhandelt und gerechnet werde, und dass sie auf lange Sicht als gleichberechtigter Partner im Bereich der Staatskunst anerkannt werden. Landesgrenzen, die von den Kolonialmächten erfunden und auferlegt wurden, würden respektiert werden, Handelsabkommen würden generell (oder auf lange Sicht) mit der ehemaligen Kolonialmacht geschlossen werden, Gesetze, die von den ehemaligen Kolonialherren gegen interne Dissidenz erlassen wurden, würden weiterhin Anwendung finden, etc. Die einheimische Bourgeoisie übernahm all die Institutionen der Regierung und lenkte – durch Aufrufe zu ausdrücklich klassengemischter, ethnisch-nationaler Einheit und Solidarität – vom grundsätzlicheren Kampf zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten ab.

  7. Die auf Geschlecht und Ethnie basierenden Befreiungsbewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten der späten 1960er und frühen 1970er nahmen ihre ideologischen Grundlagen und Rechtfertigungen von diesen erfolgreichen anti-kolonialen Kämpfen. Die Rhetorik der nationalen Befreiung der Dritten Welt wurde ständig benutzt, so dass viele Afroamerikaner, manche Frauen und andere selbsternannte unterdrückte Gruppen begannen, sich selbst als „innere Kolonien“ zu beschreiben. Minderheiten aller Art wurden bereits von den Eliten der hierarchischen Gesellschaft als das untergeordnete Andere identifiziert; die einfache Identifikation der kolonialen Ausbeuter und ihrer Institutionen als das unterdrückende Andere liegt im Herzen der Wirren der Identitätspolitik. Jeden zu blamieren, jedem die Verantwortung und Schuld zuzuweisen, der zur Kategorie der unterdrückenden Anderen gerechnet wird, begrenzt die Möglichkeit, Hierarchie und Herrschaft zu transzendieren; dieser Prozess kehrt bloß den Wert, der einzelnen Klassen oder Gruppen von Menschen gegeben wird, um, ungeachtet ihrer persönlichen Komplizenschaft mit historischer oder gegenwärtiger Unterdrückung.

  8. Für die meisten Frauenbefreierinnen wurde die Kategorie Frau – reduziert/verkürzt auf eine hermetische[2] Kategorie, die nur auf Geschlecht basiert – die einzige Kategorie von Bedeutung. Die Abwertung und Unterdrückung von Frauen war überall klar: Diskriminierung, Vergewaltigung und andere Formen der Gewalt, Belästigung, Erwartung und Durchsetzung der Mutterschaft und der Heterosexualität, und die unzähligen Wege, um Frauen abhängig und unterwürfig zu halten. Frauenbefreierinnen erklärten das Patriarchat zum Feind, einige gingen den nächsten logischen Schritt und machten Männer – reduziert auf eine hermetische Kategorie, die nur auf Geschlecht basiert – zum Feind. Für die meisten schwarzen Nationalisten wurde die Kategorie Schwarz – reduziert auf eine hermetische Kategorie die nur auf Genetik und Rasse basiert – die einzige Kategorie von Bedeutung. Die Abwertung und Unterdrückung der Schwarzen war überall klar: Diskriminierung in Form von Jim Crow[3], Lynchen und anderen Formen der Gewalt, Belästigung (besonders durch den Gesetzesvollzug), der Erwartung und Durchsetzung von Unterwürfigkeit, und die unzähligen Wege, um schwarze Menschen abhängig und unterwürfig zu halten. Schwarze Nationalisten erklärten den weißen Rassismus zum Feind, einige gingen den nächsten logischen Schritt und machten die weißen Leute – reduziert auf eine hermetische Kategorie die nur Auf Genetik und Rasse basiert – zum Feind.

  9. Rasse und Geschlecht, ähnlich wie andere kulturell bestimmte ideologische Konstrukte, sind beides: real und unreal. Unreal im biologischen Sinne; Vorstellungen von diesen Unterschieden beziehen sich nicht auf objektive – d.h. nicht-kulturell basierte – Kategorien. Real im soziologischen Sinne; es gibt klare, Wege Rassismus, Sexismus und andere Formen der Herrschaft und Ausbeutung ungeachtet eines bestimmten kulturellen Kontextes zu erkennen. Sie verdienen daher eine kritische Aufmerksamkeit. Diejenigen, die den Diskurs der Gender Studies verfechten, haben eine exzellente Arbeit im Analysieren und Zertrümmern der kontingenten[4] Art, in der das Geschlecht verstanden wird, geleistet, die zeigt, dass bestimmte Kombinationen von Chromosomen und Genitalien nur einen Teil (und wohl nicht mal den wichtigsten Teil) von dem, was Geschlecht seine Bedeutung gibt, ausmachen. Kritische Rassentheorie [sic!] ist auch eine vielversprechende und interessante neuere anti-esssentialische Entwicklung.

  10. Kolonialisten und ihre Verteidiger promoten ständig mythisch-ideologische Kategorien der Herrschaft. Menschen, die sich hierarchischen Institutionen widersetzen, verstehen und erwarten das bereits. Der konzeptuelle Hauptwiderspruch der Anti-Imperialisten (diejenigen, die sich angeblich kolonialen Praktiken widersetzen) ist ihr Akzeptieren der euroamerikanischen Vorurteile und Stereotypen – nur mit den umgekehrten Werten. Die Kategorien des verleumdeten Anderen (Schwarzer, Wilder, Frau), geschaffen und aufrecht erhalten zum exklusiven Vorteil der „europäischen Vorherrscher“ und Sexisten, wird nicht in Frage gestellt; es versteht sich von selbst, dass ihre Objektivität auf dem common sense der Kultur basiert, die ursprünglich von den Rassisten und Sexisten geschaffen wurde. Jeder kann sagen, ob jemand männlich oder weiblich ist – es ist biologisch. Jeder kann sagen, ob jemand schwarz oder weiß ist – es ist wissenschaftlich. Bereits vor (aber vor allem während) den prägenden Jahren des europäischen Kolonialismus wurden Wissenschaft und Biologie als Methode, die objektive Realität zu erkennen, betrachtet. Anti-Imperialisten, als gute Marxisten-Leninisten, finden nichts beunruhigendes an der Wissenschaft; es ist das, was ihre besondere Ideologie von allen anderen Formen des Sozialismus trennt. Allerdings ist die Wissenschaft ein ideologisch getriebenes Streben. Die Wissenschaft für eine neutrale Untersuchung und eine Einsicht in Fakten – dem technologischen Fortschritt, der zunehmenden Befreiung der Menschheit und dem Wissen über das Universum zuliebe – zu halten, sollte wie jede andere Form von Wunschdenken behandelt werden. Das Wissen ist nicht getrennt von den Zwecken, für die es benutzt wurde und gerade benutzt wird.

  11. Gruppenselbstdefinition scheint in den anarchistischen Prinzipien der Selbstorganisation und der freiwilligen Assoziation Platz zu haben. Die gegen-essentialistische Identität kann selbst als ein Versuch verstanden werden, die verwandschaftliche Gemeinschaft zurückzuerobern, zerstört durch die Aufdrängung des industriellen Kapitalismus (der auf der Arbeitsteilung und der dadurch resultierenden Atomisierung und Entfremdung von Individuen voneinander basiert). Es bleibt jedoch problematisch, weil sie eine Identität ist, die in der Ideologie der Viktimisierung geschmiedet wurde; sie beruht auf den gleichen willkürlichen und konstruierten Kategorien, die zuvor formuliert wurden, um Unterdrückung zu rechtzufertigen. Das Erstellen eines vermeintlich befreienden Gegen-Narrativs, das auf visuellen Merkmalen begründet bleibt, kann unmöglich die Gültigkeit einer unterdrückenden Ideologie in Frage stellen. Das andere Problem ist das Fördern einer ideologisch konstruierten Identität. Solch eine Identität verlangt Gruppenloyalität und -Solidarität über die tatsächlich gelebten Erfahrungen der beteiligten Individuen hinaus.

Die Person, die sich von dem versprochenen Zusammengehörigkeitsgefühl angezogen fühlt, das von irgendeiner Institution angeboten wird (ob eine unterdrückte Gruppe, eine hierarchische Organisation oder irgendeine Formation, die eine Einheit fordert), muss den vorgefertigten Unterscheidungen und Kategorien, die von den Anderen kreiert wurden, zustimmen. Wenn der Gegen-Essentialist den Bedingungen Einschluss/Ausschluss einmal zugestimmt hat (was der erste Schritt auf dem Weg zum Separatismus ist), kann er/sie nicht mehr auf eine andere Weise identifizieren oder identifiziert werden; welche Kriterien auch immer im gegen-essentialisitschen Narrativ bereits existieren, sie sind die einzigen, die von Bedeutung sind. Dieser Identitäts-Fundamentalismus benötigt, dass jede Person, die an einer radikalen Veränderung interessiert ist, auf die Fähigkeit verzichtet, sich selbst zu definieren. Er/Sie muss jedes Selbstbewusstsein in präexistenten/vorgesetzten Bedeutungs-Kategorien auflösen. Biologie – unabhängig von ihren ideologischen und kulturellen Einengungen – ist Schicksal; Subjektivität kann nur (noch) aufgeopfert und/oder unterdrückt werden. Eine der ersten autoritären Lügen ist, dass jemand anders es besser weiß.

Essentialisten wissen, bloß durch das Werfen eines flüchtigen Blickes auf ihre gewählten Anderen, bereits alles, was sie über diese Person wissen müssen. Separatisten, Nationalisten, Anti-Imperialisten – alles Essentialisten – nennen das Befreiung.

[1] A.d.Ü.: Im englischen Original: statist. Das Wort lässt sich leider nicht adäquat ins Deutsche übertragen, es hieße soviel wie: „staatistisch“.

[2] A.d.Ü.: hermetisch: luft- und wasserdicht (verschlossen)

[3] A.d.Ü.: Jim Crow ist seit 1828 (nach der Titelfigur eines Minstrelstücks von Thomas D. Rice) eine abwertende Bezeichnung für einen Schwarzen. Zudem steht Jim Crow für die Rassentrennung und -diskriminierung.
Jim Crow Laws: Rassentrennungsgesetze im Bildungs und öffentlichen Sektor in den USA, wurden erst 1954 abgeschafft.

[4] A.d.Ü.: , kontingent: zufällig, willkürlich, unvorhergesehen