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Lesben, Schwule und Trans* feiern den neuen ICD 11. Menschen mit Transsexualität nicht.

Als am 18. Juni 2018 der neue ICD, der Katalog der Krankheiten online gestellt wurde, freuten sich die Lesben-Schwulen-Verbände. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld schrieb auf ihrer Facebook-Seite "Eine historische Entscheidung!" und die Online-Postille queer.de zitierte Trans*-Verbände wie Transgender Europe, die sich über die Änderung des ICD freuen. Dabei bliebt der Behandlungsgegenstand "Geschlechtsidentität" und die Zuständigkeit liegt weiterhin bei den psychiatrischen Fachgesellschaften. Es muss die Frage erlaubt sein, warum sich Lesben-Schwulen-Verbände und Transgender-Vereinigungen (also die mit dem "Trans*" im Namen) sich über eine Neuetikettierung eines gleichbleibenden Inhalts freuen, während Menschen mit Transsexualität sich darin nicht wiederfinden.

Ein Erklärungsansatz: Lesben- und Schwulen-Verbänden, sowie Transgender-Vereinigungen, geht es um etwas anderes als Menschen mit Transsexualität. Nachdem "Geschlechtsidentität" weiterhin der Krankheitsgegenstand bleibt und die Diagnostik weiterhin in der Hand der psychiatrischen Fachgesellschaften bleiben wird, muss davon ausgegangen werden, dass "Geschlechtsidentität" für Lesben, Schwule und Transgender-Personen (Trans*Personen) das zentrale Thema ist. "Geschlechtsidentität" kommt aus dem englischen, wurde von John Money einem Psycho-Sexologen in den 1950er und 1960er-Jahren erfunden und meint, dass Menschen sich einem bestimmten sozialen Geschlecht (Gender) zuordnen (Identität). Der Begriff "Geschlechtsidentität" macht es möglich davon zu sprechen, dass einem Menschen ein bestimmtes biologisches Geschlecht zugeschrieben wird, während die geschlechtliche Identifikation dazu als abweichend angenommen wird.

Das Konzept der abweichenden Geschlechtsidentität macht es einfach, sowohl Homosexualitäten als auch Transgender-Varianten zu beschreiben. Ohne an der bisherigen Geschlechterlogik rütteln zu müssen, die - meistens - Genitalien als geschlechtsbestimmenden Faktor annimmt, ist es nun möglich ausdrücken zu können, dass Menschen sich anders fühlen, als biologisch zugeschrieben. Dieses "Fühlen" meint, dass homosexuelle Männer sich auch den weiblichen sozialen Dingen zugehörig fühlen (Hirschfeld, selbst homosexuell, behauptet das so in seinen Büchern). Dieses "Fühlen" meint aber auch, dass manche Menschen trotz ihres Geschlechtes sozial lieber anders erscheinen möchten (Arnold Lowman, ein Transvestit und Transgender-Pionier, der sich den Namen Virginia Prince gab, schrieb das so in seinen Büchern).

Für Homosexuellen-Verbände und Transgender-Vereinigungen ist "Geschlechtsidentität" also essentiell. In Frage gestellt wurde dieses Konzept von diesen Gruppen nie. Es wurde auch keine öffentliche Debatte darüber angestossen, ob das Konzept der "Geschlechtsidentität" nicht auch Schattenseiten hat.

Die Schattenseiten des Konzeptes der "Geschlechtsidentität" wurden von Menschen mit Transsexualität beschrieben und entscheidende Fragen gestellt: Was, wenn es Menschen gibt, die auf Grund ihres Körpers einem Geschlecht zugeordnet wurden, aber eigentlich einem anderen Geschlecht zugehören? Was, wenn Menschen körperliche Variationen mitbringen können? Was, wenn es Frauen mit vermännlichten Genitalien gibt? Was, wenn Männer mit nicht-vermännlichten Genitalien existieren? Was, wenn es diesen Menschen darum geht, sowohl in ihrem eigenen Geschlecht, als auch in ihren Anliegen ernst genommen zu werden?

Und: kann es sein, dass das Konzept "Geschlechtsidentität" die Beantwortung dieser Fragen verhindert?

Würde angenommen werden, dass ein Menschen ein Wissen über sein Geschlecht hat und eine geschlechtliche Äusserung etwas über das Geschlecht aussagt und nicht über die "Geschlechtsidentität", würden bestimmte Gewissheiten, die für Lesben und Schwule und Trans*(gender)-Personen einer Weiterentwicklung benötigen. Dann wäre ein Mensch, der sagt "ich bin eine Frau" entweder ein homosexueller Mann, der seine weiblichen Seiten ausleben will (ein Geschlechtsidentitäts-Thema), oder ein Transvestit, der weiss, Mann zu sein, aber gerne als Frau wahrgenommen werden will (ein Geschlechtsidentitäts-Thema)... oder aber - und das ist etwas, was gerne vergessen wird - eine Frau mit vermännlichten Körpermerkmalen. Im letzteren Fall wäre es, und das ist das entscheidende, kein Geschlechtsidentitätsthema mehr, sondern eine Frage des Geschlechtes.

Wenn also "Geschlechtsidentität" als Krankheitsgegenstand gilt - und das auch weiterhin - dann ist es fast logisch, dass Lesben, Schwule und Trans*(gender)-Personen sich darüber freuen, da ihr Lebensthema dadurch genau abgebildet wird. Menschen, deren Hauptthema der Körper ist, werden sich über die neue ICD-Diagnostik "Gender Inkongruenz" nicht wirklich freuen können, da "Geschlechtsidentität" ja weiterhin behandelt wird, und sie dann, wenn sie zum Arzt gehen, weil sie Hormone benötigen oder Operationen wünschen, in Zukunft weiterhin mit einer Transgender-Diagnostik zu tun haben werden. Weiterhin werden sie dazu befragt werden, wie sie sich in der Kindheit verhalten haben, weiterhin werden sie befragt werden zu Spielzeugen, mit denen sie gerne gespielt haben, sie werden befragt werden zu Spielkameraden, zu ersten Liebesbeziehungen, sprich: Zu all den Themen, die mit körperlichen Variationen nichts zu tun haben, sondern mit sozialen Rollen und sozialen Zuordnungen. Wer dann zum Arzt geht und Hormone wünscht oder Operationen wird also auch in Zukunft weiterhin mit genderdeutender Medizin zu tun haben.

Die Frage ist: Wäre eine andere Medizin möglich? Ja. Menschen mit Transsexualität haben dazu bereits Vorschläge gemacht. Es wäre möglich, dass Geschlecht eines Menschen am Anfang einer medzinischen Behandlung nicht in Frage zu stellen. Die "Stuttgarter Erklärung" war ein erster Aufriss.

Damit aber so ein Neuansatz in der Diagnostik möglich wird, müssten nicht nur Homosexuellen-Verbände oder Trans*(gender)-Vereinigungen gehört werden, die "Geschlechtsidentität" als Thema haben, sondern auch Menschen mit Transsexualität zu Wort kommen. Bisher wurden diese eher unsichtbar gemacht und es wäre schön, wenn sich daran auch mal etwas ändern würde.

Alles auf Null. Der neue ICD. Der Kampf beginnt von Neuem.

Die WHO hat heute den ICD11 veröffentlicht. Was sollen wir sagen? Im Prinzip bleibt alles wie gehabt. Es wird Spielzeugdiagnosen geben, es wird weiterhin "Gender Identity" zum Krankheitsgegenstand gemacht. Anstatt eine Reform der medizinischen Klassifikationen auf den Weg zu bringen, die den Namen verdient, wird uns nun alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert. Wenn wir berücksichtigen, was die Leitlinienkommission, die dann die Anwendbarkeit in Deutschland vorbereitet hat (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung und co), dann bleibt die Behandlung von "Gender Incongruence" in der Hand von psychiatrischen Fachgesellschaften.

Das traurige ist, dass "Trans*"-Lobbyverbände die Leute in den letzten Jahren an der Nase herum geführt haben und damit eine echte Emanzipationsbewegung behindert wurde.

Wir vermuten, dass spätestens dann, wenn die Leute merken, dass sie betrogen wurden und mehr oder weniger alles bleibt wie es ist - also Zuständigkeiten, Verfahren und Diagnostik - oder sogar schlimmer wird (so sollen ja auch Umpolungen möglich sein, um Menschen mit Transsexualität dazu zu bringen, von medizinischen Massnahmen abzusehen), dann werden wir in die nächste Runde gehen. Aktuell sind wir quasi am Nullpunkt angekommen.

Wünschenswert wäre, wenn in den nächsten 20 Jahren eine echte Emanzipationsbewegung entstehen würde, die sich von Genderdeutung (was ja weiterhin den Kern der sogenannten "Gender Incongruence" darstellt) distanziert und den Lobbyisten, die hier wenig bis gar nichts erreicht haben, den Stinkefinger zeigt.

https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-11/index.htm


Ausschnitte aus dem Leitlinien-Papier der DGfS (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung):

"AWMF-S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*-Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung."

"Als gemeinsamer Nenner liegt den verschiedenen Begriffen die Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentität bzw. (empfundenem) Geschlecht bzw. (empfundener) Geschlechtszugehörigkeit und körperlichen Geschlechtsmerkmalen zugrunde"

"Behandelnde mit folgenden Abschlüssen sind die Zielgruppe der Leitlinie. Die Qualifikationen gelten als ausreichend, um Indikationsstellungen leitliniengerecht stellen zu können:
• Psychologische_r Psychotherapeut_in
• Arzt_Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
• Arzt_Ärztin für Neurologie und Psychiatrie / Psychotherapie
• Arzt_Ärztin für Nervenheilkunde
• Arzt_Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
• Arzt_Ärztin für Psychotherapeutische Medizin"

"Die erste Säule einer umfassenden Diagnostik ist die ausführliche Anamneseerhebung der psychosexuellen Entwicklung mit Berücksichtigung wichtiger Entwicklungsschritte vor der Pubertät, im Verlauf der Pubertät und in der Zeit nach der Pubertät, der sexuellen Orientierung und bisherigen Beziehungserfahrungen, der Entwicklung der GI bzw. GD über die Lebenszeit, des inneren und eventuell bereits erfolgten äußeren Coming-out sowie der Reaktionen im sozialen Umfeld (Peer Group, Familie) auf das geschlechtsuntypische Verhalten, mit eventuellen Erfahrungen von Diskriminierung und Exklusion."

"Das Verlangen nach körpermodifizierenden Maßnahmen ist lediglich bei zwei der sechs A-Kriterien im DSM-5 für die GD von Bedeutung, kann demzufolge vorhanden sein, muss es aber nicht, um eine GD bzw. GI diagnostizieren zu können."
(Aktueller Stand der Leitlinienentwicklung Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie, April 2017)